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04. April 2017

Paul Lendvai über Béla Tarr

Paul Lendvai über Béla Tarr: eine Laudatio

Prof. Paul Lendvai, österreichischer Publizist ungarischer Herkunft, wird seit Jahrzehnten weit über die heimischen Landesgrenzen hinaus als bestens renommierter Osteuropa-Experte hoch geachtet. Der mit zahlenreichen in- und ausländischen Preisen bedachte 87-jährige Kommentator, Moderator und vielfache Buchautor hat kürzlich eine Laudatio auf Béla Tarr gehalten, der im Rahmen des fünften LET’S CEE Film Festivals für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

Man hat mir angeboten, ich könnte meine Laudatio auf Béla Tarr in drei Sprachen halten: auf Ungarisch, auf Deutsch oder auf Englisch. Natürlich hätte ich gerne auf Ungarisch gesprochen – der einzigen Sprache, in der wir Ungarn keinen Akzent haben. Ansonsten tragen wir stets unseren Ursprung, unseren Akzent wie ein unzerstörbares Panzerblech mit uns, ganz egal ob man einen österreichischen oder britischen Pass besitzt, ob man ein Nobelpreisgewinner oder Milliardär ist. Dessen ungeachtet ist Ungarisch eine wunderschöne Sprache, vor allem was die Poesie, die Liebe und das Fluchen betrifft, was hier und jetzt natürlich nur wenige Menschen nachvollziehen würden. Und es ist offensichtlich, dass die meisten Nicht-Deutschen, Nicht-Österreicher oder Nicht-Schweizer schlechtes Englisch als Lingua Franca im heutigen Zeitalter bevorzugen.

Ich bin weder ein Filmemacher, noch ein Kinokritiker, noch habe ich auf irgendeine andere Art mit der Filmindustrie zu schaffen. Und dennoch gibt es vermutlich zwei Eigenschaften, die mich direkt mit Béla Tarr verbinden. In einem Interview hat er einmal eingestanden, ein Unruhestifter zu sein – und das bin ich auch. Er zeigt die nackte Realität, die sich hinter Schlagworten verbirgt, mit seiner legendären und erhabenen Kunst – ich tue dasselbe mit meinem Journalismus und meinen Büchern. Und wenig überraschend gelten wir beide etwa auch in Orbáns Ungarn als schwarze Schafe.

Béla ist ein kreatives Genie, das nicht im Elfenbeinturm lebt. Er ist und war immer ein Beispiel für das, was der große griechische Staatsmann Perikles mehr als 400 Jahre vor Christus festgestellt hat: „Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.“ Er hat sich Zeit seines Lebens immer gegen alles ausgesprochen, was hässlich, verwerflich und beängstigend ist – vor allem in Ungarn, aber auch auf globaler Ebene. Er besaß die Stärke, sein Filmschaffen nach seinem größten Erfolg 2011 zu beenden, nachdem er den Silbernen Bären der Berlinale für sein Meisterwerk Das Turiner Pferd erhalten hatte. Er ist ein Kämpfer, der nicht dazu bereit war und ist, miese Kompromisse mit dem Orbán-Regime einzugehen. Und auch die Etablierung seiner Filmakademie in Sarajevo war mehr als bewundernswert. Dass sie nach viereinhalb Jahren aufgrund der fehlenden finanziellen Mittel geschlossen wurde, ist ein furchteinflößendes Beispiel der destruktiven Kraft des ethnischen Nationalismus. Generationen junger Filmemacher konnten von diesem bescheidenen und zutiefst menschlichen Regisseur lernen – einem Regisseur, der von seinen Kollegen als einer der bedeutendsten der letzten vier Jahrzehnte geadelt wird.

Einen Glücksfall landete Béla auch mit dem herausragenden ungarischen Autor László Krasznahorkai (Satanstango) als seinem gleichgesinnten Drehbuchautor, der 2015 den renommierten Man Booker International Prize in London erhalten hat. Nicht vergessen werden dürfen auch Ágnes Hranitzky, seine Filmeditorin und Co-Regisseurin, sein Komponist Mihály Víg, sowie die wunderbaren Kameraleute, mit denen sie zusammenarbeiten.

Es ist zudem wichtig zu erwähnen, dass dieser ausgezeichnete Filmemacher, der auf der ganzen Welt bekannt ist und bewundert wird, im besten Sinn des Wortes ein Kosmopolit ist, ein Humanist, ein Internationalist, der gegen ethnischen Nationalismus kämpft, welcher Ungarn besonders seit der Flüchtlingskrise überschwemmt und der dort das soziale Klima vergiftet.

Lassen Sie mich ein paar Worte über den Begriff ‚Nation’ verlieren – die Heimat. George Orwell, dessen Meisterstücke Animal Farm und 1984 wieder zunehmend relevant werden – heute für Russland und vielleicht morgen schon für Amerika –, hat inmitten seiner Ausbrüche gegen die herrschende englische Klasse durchaus zwischen Patriotismus und Nationalismus unterschieden. Patriotismus definierte er als Liebe zum eigenen Herkunftsland (sodass jeder, der in diese Liebe hineinwächst, herkunftsunabhängig ein Patriot sein kann) und Nationalismus als den Anspruch der natürlichen Überlegenheit (was dazu führt, dass Staaten nur aus einer einzigen Nation bestehen können und andere ausgeschlossen werden). Oder wie es der ungarische Dichter Gyula Illyés ausdrückte: Der Nationalist greift an, der Patriot verteidigt. Béla ist ein großer Patriot und gleichzeitig ein universeller Humanist. Für ihn ist und war die Bewahrung und Verteidigung der menschlichen Würde stets die oberste Pflicht.

In einer Zeit, in der eine gierige und zutiefst korrupte Gruppe von Menschen mehr Geld für Fußballstadien statt für höhere Bildung ausgibt, mit Diktatoren verkehrt und das Gesundheits- und Sozialsystem vernachlässigt und statt Schulen Stacheldrahtzäune baut, hat die Stimme eines unbestechlichen Künstlers großes Gewicht. Unabhängig davon, wo er lebt, verkörpert Béla stets die Tradition großer ungarischer Persönlichkeiten wie des Komponisten Béla Bartók, der sich 1940 vom Horthy-Regime abwandte und in die USA emigrierte, oder des Pianisten Sir András Schiff, der sich aufgrund hasserfüllter, antisemitischer Hetzereien gegen seine Person seit 2011 weigert, im eigenen Heimatland aufzutreten. Der Erfolg des jungen Produzenten László Nemes, einst Tarrs Assistent, der letztes Jahr für Son of Saul mit einem Oscar bedacht wurde, legitimiert – wie Béla treffend formuliert hat – das Regime der Filmfinanzierung in Ungarn, das vom Orbán-Freund und früheren Rambo-Produzenten und heute unfassbar reichen Unternehmer Andrew Vajna kontrolliert wird, genauso wenig wie Ernő Rubiks berühmter Zauberwürfel das kommunistische System gerechtfertigt hätte.

Béla Tarr repräsentiert das menschliche Gegenmittel und eine internationale humanistische Herausforderung für ein System, das im Begriff ist, das moralische Rückgrat der Gesellschaft zu brechen. In Zeiten, wo Putin und Trump de facto gemeinsam die Werte Europas, das heute den Geburtstag der Europäischen Union feiert, nämlich die individuellen wie kollektiven Beispiele von Mut, Integrität und Zielstrebigkeit bedrohen, ist Béla Tarr wichtiger denn je.

Es ist deshalb nur angemessen, dass dieser unvergleichliche Filmemacher für sein Lebenswerk mit dem Stern der Urania des LET’S CEE Film Festivals ausgezeichnet wurde. Ich erachte es als eine große Ehre, dass ich diese kurze Laudatio halten durfte.

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